Kunst

Die künstlerischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Michelangelo und Leonardo da Vinci

Michelangelo und Leonardo da Vinci

Michelangelo, Raffael und Leonardo da Vinci bildeten den Mittelpunkt der florentinischen Kunst des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts.

Um die Werdegänge von Michelangelo und Leonardo da Vinci zu verstehen, verleiht der Sammelband Le Vite des Malers und Historikers Giorgio Vasari Auskunft. 

In diesen ausführlichen Künstlerbiografien werden beide Künstler detailliert beschrieben. Aus den Biografien lassen sich auch Rückschlüsse auf die Beziehung der beiden Künstler ziehen, deren Wege sich in Florenz mehrfach kreuzten.

Eine weitere Informationsquelle ist Michelangelos enger Freund und Biograf Ascavio Condivi. Er hat Michelangelos Leben umfassend dokumentiert.

Beide Publikationen geben uns einen wertvollen Einblick in die Florentiner Renaissance und zwei ihrer wichtigsten Künstler: Michelangelo und Leonardo da Vinci.

Hier vergleichen wir die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Renaissancemeister.

Erste Begegnung von Michelangelo und Leonardo da Vinci

Michelangelo und Leonardo da Vinci zeichneten sich als starke und einflussreiche Persönlichkeiten mit zwei unvereinbaren Haltungen zur Kunst aus.

Da Vinci war zwanzig Jahre älter als Michelangelo, und beide hatten ihre eigene Auffassung von Kunst. 

Die erste Begegnung der beiden Künstler fand statt, als Leonardo in das Komitee berufen wurde, das den Standort für die Skulptur des David bestimmen sollte.

Nach vielen Diskussionen wurde die riesige Skulptur auf dem Platz vor dem Palazzo della Signoria, dem Sitz der florentinischen Regierung, aufgestellt.

Verschiedene Kunstauffassungen der Beiden

Im Inneren des Palazzo della Signoria befand sich ein großer Saal, der Salone dei Cinquecento, für Versammlungen von Bürgern mit Stimmrecht.

Hier trafen die Arbeiten der beiden Künstler zum ersten Mal direkt aufeinander. Leonardo hatte 1503 den Auftrag erhalten, ein sehr großes Wandgemälde zu malen, das die Schlacht von Anghiari darstellt, einem Sieg über die Mailänder im Jahr 1440.

Michelangelo sollte ihm zur Seite stehen, dessen Thema für ein angrenzendes Fresko die Schlacht von Cascina war, die Florenz 1364 gegen die Pisaner geführt hatte.

Erhaltene Zeichnungen für das Projekt, eine Kopie von Michelangelos verlorener Skizze und visuelle Aufzeichnungen von Leonardos unvollendetem Wandgemälde zeigen die Unterschiede in ihren Auffassungen von der Kunst:

  • Leonardos Schlacht sollte einen brutalen Kampf von Soldaten in aufwändigen und phantastischen Kostümen darstellen, die auf wilden Pferden reiten. Ein höchst intensiver Kampf sollte sich mit dem intensiven Naturalismus vermischen:
Pferd in der Kunst Rubens

Peter Paul Rubens , Schlacht von Anghiari, (Kopie nach Original von Leonardo da Vinci), ca. 1603

  • Michelangelos Ansatz bestand dagegen darin, einen Moment des Aufruhrs darzustellen, als die badenden Soldaten durch einen eindringlichen Schrei auf den bevorstehenden Angriff des Feindes aufmerksam gemacht wurden.  Wie immer bei Michelangelo wird das Drama durch den menschlichen Körper erzählt. Die Landschaft ist hingegen nur flüchtig dargestellt:
Michelangelo, Schlacht bei Cascina, Kopie von Aristotile da Sangallo um 1542

Michelangelo, Schlacht bei Cascina, Kopie von Aristotile da Sangallo um 1542

Beide hatten Leichname seziert, um die Anatomie des Menschen zu verstehen, aber aus verschiedenen Gründen: Da Vinci war bestrebt, die Wahrheit einer Geste zu vermitteln, um Handlungen und Emotion besser darzustellen, während Michelangelo ein gesteigertes Interesse daran hatte, Akte möglichst ideal, ästhetisch und gleichzeitig anatomisch korrekt darzustellen.

Das Aufeinandertreffen der gegensätzlichen Kunstauffassungen sollte sich jedoch nie an den Wänden des Konzilsaals manifestieren:

Michelangelo wurde 1505 in den päpstlichen Dienst berufen, und die florentinischen Behörden einigten sich widerstrebend mit den französischen Herrschern von Mailand, dass Leonardo 1506 in die lombardische Stadt zurückkehrte, um ihnen zu dienen. 

Zusammengefasst: Auch wenn beide sich mit ähnlichen Themen beschäftigten und auf ihre Weise zu grandiosen Ergebnissen gelangten, so betrachteten sie dasselbe Material aus anderen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Zielsetzungen.

Maltechniken der Renaissancegenies

Von Donatello und Verrocchio wurde Da Vinci zu seinem Sfumato-Stil inspiriert, den er wie kein Zweiter perfektionierte.

Diese Technik der Weichzeichnung ist an keinem Kunstwerk besser zu erkennen als an der Mona Lisa.

Aber auch andere Porträts von da Vinci sind unter Zuhilfenahme dieser Technik ausgeführt worden.

Mona Lisa Leonardo da Vinci Werke

Leonardo da Vinci, Mona Lisa, ca. 1502 - 1506

Michelangelos Maltechnik, die er in seinem Ölgemälde Tondo Doni anwandte, stand in starken Kontrast zur perfektionierten Technik Leonardos.

Die Komposition wirkt kompakt und energiegeladen, wie man es von seinen Skulpturen kennt. Die starken farblichen Kontraste erinnern an die Bilder des Deckenfreskos der sixtinischen Kapelle, die aus der Ferne betrachtet noch Wirkung entfalten müssen.

Michelangelo, Tondo Doni, 1506

Michelangelo, Tondo Doni, 1506

Auch wenn die malerische Ausarbeitung von seiner handwerklichen Meisterschaft zeugen, erinnert die Gestaltung der Figuren und ihrer Gewänder an seine bildhauerischen Arbeiten.

Sie sind nicht so raffiniert weichgezeichnet wie die Figuren in den Ölgemälden von Leonardo.

Zusammengefasst: Da Vinci verbrachte Jahre unter seinem Lehrmeister Verrocchio, während Michelangelo nur ein einziges Jahr in der Werkstatt von Ghirlandaio blieb, bevor er sich unter Bertoldo di Giovanni der Bildhauerei widmete. 

Michelangelo sah sich in erster Linie als Bildhauer, was wiederum in der plastischen Malweise zum Ausdruck kommt.

Das Unfertige als gemeinsames Merkmal

Beide Künstler hatten eine Vorliebe für das Non-Finito, das zurückgelassene Kunstwerk, das Unvollendet bleibt.

Da Vinci ließ mehrfach Zeichnungen und Gemälde zurück, während Michelangelo vielfach Aufträge nicht fertigstellte, da er meist ohne Assistenten arbeitete, um seine künstlerische Handschrift nicht zu verwässern.

La Scapigliata

Leonardo da Vinci, La Scapigliata, c.1508 | Da Vinci Ausstellung, Louvre 2019

Michelangelo und Leonardo da Vinci, Der Heilige Hieronymus

Leonardo da Vinci, Der Heilige Hieronymus, ca. 1480 | Da Vinci Ausstellung, Louvre 2019

Da Vinci machte die Unvollständigkeit zu einem Teil seiner Malweise. Er integrierte die Unvollständigkeit in sein Sfumato, bis nur noch schwer zu unterscheiden war, welche Bereiche bewusst verschwommen nebelig gehalten und welche ohne detaillierte Ausarbeitung zurückgelassen wurden.

Michelangelo hat entweder aufgrund anderer Aufträge ein Werk aufgegeben oder er hat bewusst mit einer neuen Form besonders dynamischer Kunst experimentiert.

Nachdem er das anfängliche Modell unvollendet angetestet hatte, wandte er sich der eigentlichen Statue zu. Mit der Rage, mit der sich Michelangelo dem Werkstoff widmete, befreite die Seele des Steins und sorgte für viele seiner bedeutendsten Kunstwerke.

Mit derselben Hast widmete er sich aber auch neuen Aufträgen, sodass einige der angefangenen Skulpturen unvollendet blieben.

Michelangelo, Pietà Rondanini, 1552 - 1564, unvollendet

Michelangelo, Pietà Rondanini, 1552 - 1564, unvollendet

Als Papst Julius II. ihm den Auftrag für das Deckenfresko der sixtinischen Kapelle erteilte, hofften Raffael und andere Künstler, dass er den Auftrag früher oder später doch zurückweisen würde, weil es zu viel Arbeit bedeutet. Doch in diesem Fall blieb Michelangelo hartnäckig und vollendete das riesige Meisterwerk.

Zusammengefasst: Als wahrheitssuchender Universalgelehrter war Leonardo darum bemüht, den Dingen auf den Grund zu kommen.

Eine Vollkommenheit lässt sich nur in wenigen seiner Gemälde erkennen, die umso beeindruckender sind. Den Großteil seiner Zeit verbrachte Leonardo mit der Forschung in vielen Wissenschaften.

Michelangelo war der vollkommenen Kunst mit ihren idealisierte Formen stärker zugeneigt. Das zeigt sich vor allem darin, dass er nur selten Assistenten mit der Gestaltung seines Werks betraute.

Da er ständig noch aufregendere Aufträge angeboten bekam, die er nicht Ablehnen konnte, führte dies unweigerlich zu einigen unvollendeten Kunstwerken und Zuarbeiten bedeutenderer Hauptwerke.

Lenny
Der AutorLenny
Als Gründer von Daskreativeuniversum teile ich mein Fachwissen im Bereich der Kunstgeschichte und meine Erfahrungen in der zeitgenössischen Kunst mit dir.