Das Gemälde Der heilige Hieronymus (oder auch Der heilige Hieronymus betet in der Wildnis) ist eines von Leonardo da Vincis unvollendeten Gemälden. Wahrscheinlich wurde es um 1483 begonnen und man sieht sofort, dass es sich um ein unfertiges Werk handelt. Die Unvollkommenheit ist gar Teil der Wirkung des Werks.
Ebenso wichtig ist, dass der unfertige Zustand für Kunsthistoriker sehr lehrreich ist. So können wir Leonardos Malmethode mit häufigen Unterbrechungen in Aktion sehen und seine Vorgehensweise besser verstehen.
In dieser Bildbeschreibung und Interpretation findest du alle Infos zu ein dem wichtigsten unfertigen Werke von Leonardo, das im Anbetracht seiner anderen Meisterwerke häufig vernachlässigt wird.
Bildbeschreibung des Heiligen Hieronymus
Gealtert, fast zahnlos und von der Sonne gezeichnet, hält Hieronymus einen Stein in seiner ausgestreckten rechten Hand, als wolle er sich zur Buße einen Schlag auf die Brust versetzen.
Zu seinen Füßen liegt der Löwe, schlank und wachsam, den Schwanz wie einen Krummsäbel geschwungen und das Maul zum Knurren weit geöffnet.
Wir wissen nicht, warum oder für wen das Bild geschaffen wurde. Es kann vermutet werden, dass es kurz nach dem Ortswechsel des Künstlers von Florenz nach Mailand entstand:
Obwohl es mit der Skizze einer toskanischen Kirche in der oberen rechten Ecke Elemente von Leonardos florentinischem Stil besitzt, ist das Gemälde auf eine Nussbaumtafel gemalt. Nussholz wurde damals in Mailand häufig als Bildträger verwendet wurde, in Florenz jedoch sehr selten.
Das Gemälde als unvollendetes Meistwerk
In einigen Bereichen ist es nie über das Stadium einer vorbereitenden Skizze hinausgekommen. Der Löwe, eine bräunliche Silhouette mit unscharfen Details, verbleibt bloß als kompositorischer Wegweiser. Das Gleiche gilt für Hieronymus' ungestalteten Arm, der einen Felsen hält.
Doch ab der Schulter hin zum Torso und dem Schädel ändert sich das. Das Fleisch gewinnt plötzlich an Schattierung, die Muskulatur kommt zum Vorschein. Dieser Naturalismus überträgt sich auch auf das Gesicht, ein Konstrukt aus Sehnen und Knochen, das an Leonardos anatomische Zeichnungen erinnert.
Doch selbst in den Bereichen mit hohem Detaillierungsgrad sind bestimmte Merkmale schwer zu erkennen. Auf den ersten Blick scheinen die Augen des Heiligen nach unten gerichtet oder gar erblindet zu sein. In Wirklichkeit sind sie nach oben gerichtet, auf ein flüchtig skizziertes Abbild einer Kirche.
Direkt hinter dem Heiligen taucht eine neblige Landschaft auf, die eine himmelblaue Farbe in die halbdunkle Szene bringt - wie Leonardo es in seinen Hintergründen so oft tat.
Hinweis: Wie bei einigen Renaissance-Kunstwerken ist die Fotoqualität im Internet nicht immer die beste, weshalb es schwierig nachzuvollziehen ist, wie das Werk in Wirklichkeit aussieht. Ein Foto zeigt das Gemälde samt Rahmen in einem Ausstellungsumfeld und offenbart die farbliche Intensität des Hintergrundes:
In der exakten Darstellung von Hieronymus' Gesicht und Oberkörper sehen wir die Hand und das Auge von Leonardo, dem anatomischen Genie. In der Landschaft sehen wir den Naturforscher, den Botaniker und den Meteorologen in ihm.
Wichtiger ist jedoch der Fokus Leonardos auf die Emotionen des Hieronymus. Während viele seiner Meisterwerke idealisierte Gesichter zeigen, deren Emotionen verborgen werden, ist Leonardos Hieronymus von Qualen gezeichnet.
Ob das ausdrucksstarke Gesicht in eine ebenso ausdrucksstarke Umgebung eingebettet werden sollte, bleibt heute nur noch Spekulation. Es verbleibt als Gemälde, in der das Gesicht der Figur der Fokuspunkt der gesamten Szene ist und in einem scharfen Kontrast zu der schemenhaften Umgebung steht.
Vielleicht macht gerade dieser Gegensatz Leonardos Heiligen Hieronymus so interessant für die Betrachterinnen und Betrachter.
Leonardo da Vincis Der Heilige Hieronymus - Zerteilt und wieder zusammengesetzt
Wir wissen, dass Leonardo das Bild bis zu seinem Tod bei sich trug, bevor es aus den Aufzeichnungen verschwindet und erst im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert wieder auftauchte.
Erstmals erwähnt wurde es im Zusammenhang mit einem potenziellen Erwerb des Gemäldes durch die Schweizer Malerin Angelica Kaufmann (1741-1839), die damals in Rom lebte. Diese Theorie wurde jedoch in den letzten Jahrzehnten von mehreren Leonardo da Vinci Spezialisten zurückgewiesen.
Gesichert ist, dass Teile von der Tafel abgeschnitten wurden und das übrige Werk mehrfach zerteilt wurde. Der Legende nach wurden die einzelnen Abschnitte von Kardinal Joseph Fesch auf kuriose Art und Weise von verschiedenen Händlern gekauft und später wieder als Ganzes zusammengesetzt. Die vertikalen Reparationslinien sind auch heute noch sichtbar.
Feschs Nachfahren haben die reparierte Tafel schließlich an Papst Pius IX. verkauft, durch den es in die Sammlung der Vatikanischen Museen übergegangen ist, in der es bis heute verbleibt.
Möglicher Grund für die Unvollendung des Gemäldes
Der Künstler und Renaissance-Biograf Giorgio Vasari sieht den Grund der Unvollendung in Leonardos umtriebigen Geist.
Als Zeitgenosse schrieb er schon damals nieder, dass Leonardos ehrgeiziger Verstand ihm zu einem Hindernis werden konnte. Er strebte nach Perfektion, nach Exzellenz und Vollkommenheit und konnte aufgrund seiner vielfältigen Interessen nicht all seinen Werken die notwendige Zeit widmen, um dem eigenen Anspruch zu genügen.
Obwohl das Gemälde des Heiligen Hieronymus unvollendet bleibt, veranschaulicht es auf beeindruckende Art und Weise, wie Leonardo den künstlerischen Schaffensprozess über eine Vollendung des Werks stellte.
Bis zu seinem Tod war er nicht in der Lage das Gemälde zu vervollständigen, doch scheint es für ihn kein Grund zur Unruhe gewesen zu sein. Kreative Aufgaben lassen sich nicht erzwingen, sondern bedürfen Muße und Inspiration.