Readymade in der Kunst
Skulptur

Die Geschichte des “Readymades” in der Kunst und bekannte Werke

Foto: Tim Jokl / Flickr / CC BY-NC 2.0

Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs begannen viele Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle, jeden Aspekt ihrer Kultur zu hinterfragen, der dieses Desaster zugelassen hatte. Künstler begannen darüber nachzudenken, wie Technologie, Kunst und Politik zusammenhängen. 

Künstler und Schriftsteller wie Tzara, Hugo Ball, Man Ray, Hannah Höch und Max Ernst beschlossen, dass der einzige Weg, auf diese Erkenntnisse zu reagieren, in respektlosen und (teils) absurden Werken besteht.

Dada-Künstler verwendeten Techniken wie die Collage, Assemblage und Fotomontage, um ihre Werke zu gestalten, und schufen neue Bildsprachen, die versuchten, außerhalb der starren Strukturen der zeitgenössischen Gesellschaft zu existieren.

Das Cabaret Voltaire in Zürich war ein wichtiger Treffpunkt für Dada-Künstler, aber die Bewegung breitete sich bald nach Paris und anschließend nach New York aus.

Die frühen Objets trouves und Readymades

Der Begriff objets trouves beschreibt wörtlich einen gefundenen Gegenstand, der wie ein Kunstwerk behandelt wird. Häufig sind es Alltagsgegenstände, die in einen Kunstkontext eingefügt und so von einem gewöhnlichen Objekt in Kunst umgewandelt werden.

Das objets trouves bei Picasso

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen Künstler, solche Objekte gezielt in ihrer Arbeit einzubeziehen. Pablo Picasso gilt als derjenige, der als erstes solche gefundenen Objekte in seiner Kunst eingesetzt hat.

Sein Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht ist das wohl früheste bekannte Beispiel dafür. Indem Picasso solches Material in seine Arbeit aufnahm, begann er, die Barrieren zwischen Kunst und realem Leben zu beseitigen, da er demonstrierte, dass Kunst immer aus dem realen Leben produziert wird.

Marcel Duchamp

Es war jedoch der französisch-amerikanische Künstler Marcel Duchamp, der das Objet trouvé in seiner Theorie des Readymade zu neuen Dimensionen entwickelte. Duchamp versteht sich als Initiator des Readymade, obwohl der Begriff bereits viel früher verwendet wurde, um Objekte zu bezeichnen, die durch Herstellungsprozesse gefertigt wurden. 

Er war seit 1904 als Maler tätig und studierte von 1904-5 an der Academie Julien in Paris. Seine frühen Arbeiten zeigen den Einfluss des Kubismus und blickten auf das Werk der Futuristen.

Im Jahr 1912 begann Duchamp jedoch, sich von der Malerei zu lösen und lehnte das ab, was er als "retinale Malerei" bezeichnete. Er begann, die Idee des Readymade zu entwickeln, nachdem er eines Tages in seinem Studio ein Fahrradrad auf einen Hocker gestellt hatte, und von dort aus mit anderen Formen experimentierte. Darunter waren Objekte, die er selbst ausgewählt hatte oder die er in gewisser Weise angepasst oder verändert hatte.

Für Duchamp steht das Readymade im direkten Zusammenhang mit Industrie und Handwerk: Indem er massengefertigte Objekte nimmt und sie erhebt, indem er sie in neue Zusammenhänge rückt und sie als Kunst deklariert, hinterfragt er genau den Prozess, durch den etwas überhaupt zur Kunst wird.

Sein bekanntestes Readymade entstand 1917, als Duchamp The Fountain, ein Urinal aus Porzellan, der Society of Independent Artists für ihre Ausstellung moderner Kunst unter dem Pseudonym "R. Mutt" vorlegte.

Duchamp war Teil des Vorstands der Gesellschaft und das Werk sorgte für viel Diskussion unter ihren Mitgliedern über den Status als Kunstobjekt. Eine Krisensitzung führte zur Ablehnung der Arbeit, woraufhin es nicht ausgestellt wurde.

Fountain

Duchamp war wütend über diese Entscheidung und schrieb im folgenden Monat unter einem Pseudonym einen Beitrag in The Blind Man, der Zeitschrift, die er mit herausgegeben hatte, um das Werk zu verteidigen.

Er schrieb:

Ob Mr. Mutt mit seinen eigenen Händen den Brunnen gemacht hat oder nicht, spielt keine Rolle. Er hat es ausgewählt. Er nahm einen gewöhnlichen Artikel des Lebens, platzierte ihn so, dass seine nutzbringende Bedeutung unter dem neuen Titel und dem neuen Blickwinkel verschwand und schuf so einen neuen Grundgedanken für dieses Objekt.

Johnathan Jones findet in dieser Aussage einen neuen Ausgangspunkt für die Kunst des 20. Jahrhunderts und stellt fest: "Es ist, als ob die zeitgenössische Kunstgeschichte mit ihm anfängt". Obwohl er nur dreizehn Readymades machte, schuf dieses bahnbrechende Werk die Grundlage für den Bereich der Konzeptkunst, indem es versuchte, die Möglichkeiten der Kunst neu zu definieren. Kunst war nicht nur etwas, das man visuell genießen konnte, sondern sie durfte vielmehr Ideen und Prozesse umfassen.

Elsa von Freytag-Loringhoven

Obwohl Duchamp oft als Schöpfer des Readymade-Konzeptes bezeichnet wird, gilt Elsa von Freytag-Loringhoven heute ebenso also Pionierin. Loringhoven reiste durch ganz Europa, bewegte sich in Künstlerkreisen und arbeitete in verschiedenen Berufen als Kellnerin, Chorsängerin, Performancekünstlerin und später als Model für Fotografen.

Aber es war in Amerika, wo sie sich als Künstlerin zu entwickeln begann. In New York lernte sie Baron Leo von Freytag-Loringhoven kennen und heiratete ihn.

Elsa von Freytag-Loringhoven, God, 1917

Elsa von Freytag-Loringhoven, God, 1917

Ihr erstes Stück God fertigte sie 1917 mit einem gefundenen Objekt - ein rostiger Metallring. Das Readymade wurde zu einer Möglichkeit, um die Normen und Erwartungen der Gesellschaft zu hinterfragen und die Kommerzialisierung der Ästhetik zu erforschen.

Readymade und Surrealismus

Duchamps Werk war sowohl in der Kunsttheorie als auch in der Praxis von großer Bedeutung und beeinflusste viele seiner Zeitgenossen.

André Breton, einer der Vertreter des Surrealismus, setzte das objets trouves und das Readymade selbst ein und beschrieb als Weg, um das Denken zu stören und das Unbewusste zu aktivieren.

Im Gegensatz zu Duchamp untersuchte Breton die Identifikation des Objekts durch die Gesellschaft in einem Essay von 1937. Er wollte die Art und Weise überdenken, wie der Mensch mit Objekten im Allgemeinen interagierte und wie durch Techniken wie der Assemblage neue Zusammenhänge geschaffen werden konnten. 

Dali's Lobster Telephone (1936) In Tate Modern - London.

Salvador Dalís "Hummer- oder aphrodisisches Telefon" zielte darauf ab, unbewusste Assoziationen und Wünsche durch die Gegenüberstellung von einem Telefon und einem Hummer aus Gips zu enthüllen.

Die Kombination schien nicht nur sofort amüsant und herausfordernd zu sein, sondern verwies auch auf die Sprache der Träume, in der neue Kombinationen von Objekten und Ideen zur Selbstverständlichkeit werden.

Konzepte und Eigenschaften eines Readymades

Originalität

Bei der Verwendung bestehender Objekte in neue künstlerische Kontexte ist die Frage der Originalität eines der lästigsten Themen, mit denen sich Künstler konfrontiert sehen.

  • Was ist ein Original-Kunstwerk? 
  • Wie viel Aufwand muss ein Künstler in ein Werk stecken, damit wir sagen, dass es sich um ein einzigartiges Kunstwerk handelt? 
  • Kann ein Künstler wirklich das Eigentum an einem Kunstwerk beanspruchen, wenn es bereits außerhalb seiner Mitwirkung am Objekt existierte? 

Das sind nur einige der Fragen, die von Readymades provoziert werden. Sie beschäftigen sich auch täglich mit Fragen über unsere Beziehungen zu vertrauten Gegenständen. Indem wir sie in einen Kunstkontext einordnen, werden wir manchmal dazu gebracht, zu sehen, wie viel wir für selbstverständlich halten, was in unserem täglichen Leben vor unseren Augen liegt.

Für einige Kritiker ist die Idee der Readymades an sich umstritten, da manchmal die Originalwerke, die verloren gegangen sind oder beschädigt wurden, von den Künstlern selbst oder von Galerien neu angefertigt wurden.

Bicycle Wheel

So wurde beispielsweise Bicycle Wheel von Duchamp dreimal umgebaut, während die Originale vieler anderer völlig verloren gegangen sind und ersetzt wurden. 

In ihrer Neuauflage stellen diese Stücke jedoch noch tiefgründigere Fragen zur Originalität: 

  • Können wir trotzdem sagen, dass es sich um das gleiche Werk handelt, das ursprünglich gezeigt wurde?
  • Was bedeutet es für den Wert der Kunst, wenn wir ein verlorenes Werk einfach wiederherstellen können?

Humor und Visuelle Scherze

Humor und Spielerei waren regelmäßige Themen in Readymades, und Künstler haben oft Witze oder optische Wendungen in ihre Arbeit aufgenommen. Wie der Dadaismus versuchte Duchamp mit seinem Schaffen, kulturelle Normen zu durchbrechen und mit Sinn und Bedeutung zu spielen.

Seine Arbeit L.H.O.O.Q. (1919) verbindet ein visuelles mit einem verbalen Wortspiel: Der Titel beim Vorlesen auf Französisch lautet "elle a chaud au cul", was "Sie hat einen heißen Hintern" bedeutet, und das Bild spiegelt einen Schnurrbart wider, die auf eine Reproduktion von Leonardo da Vincis Mona Lisa gezeichnet sind. Das Werk ist eine spielerische Auseinandersetzung mit einem der gefeiertsten Werke der Renaissance und artikuliert eine neue künstlerische Absicht, neue Bedeutungen aus alten Gegenständen zu gewinnen, seien es Alltagsgegenstände oder Werke von großer Bedeutung. Humor steht bei diesem Ansatz im Mittelpunkt, da er neue Wege sucht, um über die Ausdrucksweise und das Kunstschaffen nachzudenken.

Ästhetik und Geschmack

Readymades spielen auch mit der Vorstellung von ästhetischem Geschmack und Auswahl. Traditionell betrachten wir Kunst im Kontext einer Galerie als ein kaufbares Objekt, das gekauft und ausgestellt werden kann.

Readymades stellen die Idee der Kunst als dekorativ in Frage, indem sie Objekte integrieren oder verwenden, die nicht unmittelbar als schön identifiziert werden. Dabei impliziert das Readymade, dass ein Kunstwerk nicht nur ein ästhetisches Objekt ist. Duchamp schlug vor, dass man, um ein Readymade zu schaffen, einen "gleichgültigen Geschmack" haben müsse, in dem man seine normalen Kriterien für Schönheit beiseite legen und versuchen könne, sich auf eine radikal neue Weise mit dem Objekt auseinanderzusetzen.

Indem er Kunst von persönlichem oder subjektivem Geschmack trennte, ebnete Duchamp den Weg für die Konzeptkunst, bei der die Ideen Vorrang vor der endgültigen Ästhetik des Stückes hatten.

Massenproduktion

Bei der Auswahl von massenproduzierten Objekten betrachteten Duchamp und andere Künstler das Verhältnis zwischen Kunst und Technologie und Industrie. Im 20. Jahrhundert vollzog sich ein radikaler Wandel in der Art und Weise, wie Objekte durch zunehmende Mechanisierung und die Einführung von Fabriken auf der ganzen Welt hergestellt wurden.

Die Massenproduktion ermutigt die Bevölkerung, Objekte in Bezug auf ihre Funktion im Gegensatz zu ihrer Schönheit zu betrachten. Doch durch Readymades konnten Künstler ihre Betrachter ermutigen, diese Sichtweise zu überdenken und die Objekte eher wegen ihrer ästhetischen Schönheit als für ihren vorgegebenen Zweck zu betrachten.

Das Readymade in der zeitgenössischen Kunst

Das Readymade im Neo-Dada

Das Readymade wurde Ende des 20. Jahrhunderts oft von Künstlern verwendet, deren postmodernes Werk auf die Kritik der kulturellen Massenproduktion abzielte. Viele junge Künstler in Amerika griffen die von Duchamp vertretenen Theorien und Ideen auf.

Vor allem Robert Rauschenberg war stark vom Dadaismus beeinflusst und nutzte in seinen Collagen gerne Fundstücke, um die Grenze zwischen hoher und niederer Kultur zu überschreiten.

First Landing Jump

Sein Landing Jump (1961), der mit einem Reifen auf Duchamps Fahrradrad angespielt hat, wandte sich auch an die von Autos besessene Kultur der 1960er Jahre in Amerika. Er und andere wurden als Neodadaisten bekannt, weil sie Humor, Spiel und Kritik an der Populärkultur und dem ästhetischen Geschmack einbrachten.

Andere Neodadaisten wie Joseph Beuys reagierten auf die Ideen von Duchamp mit ihren Werkschöpfungen, die das Verhältnis zwischen Kunstobjekt und Galerieraum störten oder in Frage stellten.

Readymades würden wichtige Grundlagen für die Konzeptkunst legen, indem sie es Künstlern erlaubten, die Präsentation einer Idee an sich als Kunstwerk zu betrachten und zu verfeinern. Sie beeinflussten auch zeitgenössische Künstler, am deutlichsten sowohl in der Pop Art als auch in der Neo Geo-Bewegung, die Alltagsgegenstände der Massenproduktion und des Konsums in den Mittelpunkt stellte.

Young British Artists

In den späten 80er und frühen 90er Jahren nahm das Readymade durch eine Gruppe von Künstlern, die als Young British Artists (YBAs) bekannt wurden, eine neue Form an. Künstler wie Damien Hirst waren bekannt für schockierende Arbeiten, die zu sehr hohen Preisen verkauft wurden. Sein weltbekannter konservierter Hai ist ein Beispiel für ein Objekt, das er als Kunstobjekt inszeniert hat und für viele Millionen verkauft hat.

Sie bezogen auch oft Massenprodukte aus der Populärkultur oder allgegenwärtige Objekte aus dem Alltag mit ein und experimentierten damit, sie in neue Zusammenhänge zu rücken. Inspiriert wurden sie von Duchamps Vorstellung von "Selektion" und "Geschmack", bei der ein Objekt erst dadurch zur Kunst wird, dass der Künstler es zur Kunst macht.

Das berühmteste Readymade aus dieser Zeit ist wahrscheinlich Tracey Emins My Bed, das 1999 für den Turner Prize in die engere Auswahl kam.

My Bed by Tracey Emin at Tate Britain London

Emin erhielt viel Kritik, weil die Leute dachten, die Arbeit sei etwas uninspiriert und zeige keine künstlerischen Fähigkeiten. Als Antwort auf die Behauptung, dass jeder diese Arbeit machen könnte, antwortete Emin: "Nun, das haben sie nicht, oder? Das hatte noch nie jemand zuvor getan."

Lenny
Der AutorLenny
Als Gründer von Daskreativeuniversum teile ich mein Fachwissen im Bereich der Kunstgeschichte und meine Erfahrungen in der zeitgenössischen Kunst mit dir.

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