Im Folgenden werden wir uns eines der berühmtesten Aktbilder der modernen Kunst ansehen: Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2.
Die Bildanalyse ist wie folgt gegliedert:
- Einleitung über Marcel Duchamp
- Steckbrief mit Daten zum Gemälde
- Zeitliche Einordnung der Entstehung des Gemäldes
- Stilistische Einordnung des Gemäldes und dessen Einflüsse
- Formale Bildanalyse
Ein Wort über den Künstler Marcel Duchamp
Henri-Robert-Marcel Duchamp wurde am 28. Juli 1887 in Nordfrankreich in der Normandie geboren. Er starb am 2. Oktober 1968 - wie es heißt - an einem Herzversagen.
Seine gesamte Familie war künstlerisch veranlagt, sodass er schon in jungen Jahren zeichnete, sich in der Aquarellmalerei austobte und schließlich zur Malerei mit Ölfarben überging.
1904 begann er sein Studium an der renommierten Académie Julian in Paris. Er war mit Künstlern wie Francis Picabia und dem Schriftsteller Guillaume Apollinaire befreundet.
Er interessierte sich für die angesagten Kunststile seiner Zeit, allen voran für den von Picasso und Braque initiierten Kubismus.
Duchamp war ein fester Bestandteil der Pariser Kunstwelt, bis er 1915 in Folge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs in die USA übersiedelte. In seinem späteren Leben widmete er sich in erster Linie dem Schachspiel.
Duchamp war ein bedeutender Einfluss auf die Kunst des 20. Jahrhunderts und beeinflusste Kunststile vom Minimalismus bis zur Pop Art. Er war unkonventionell und drückte seine Ideen auf vielfältige Art und Weise aus, die weit über die Möglichkeiten einer Leinwand reichten.
Zeitliche Einordnung und Entstehungsgeschichte
Das Europa und Nordamerika des anbrechenden 20. Jahrhunderts waren Orte des kulturellen und künstlerischen Wandels. Die Vorstellungen, was Kunst ist und was Kunst sein darf, änderten sich. Und dennoch war Marcel Duchamps Aktdarstellung seiner Zeit etwas ganz Außergewöhnliches.
1912 versuchte Duchamp das Gemälde im Salon des Indépendants in Paris auszustellen. Auf dieser Ausstellung sollte sein Gemälde zwar nicht gezeigt werden, doch wurde es in den Ausstellungskatalog aufgenommen.
Berichten zufolge wurden Duchamps Brüder vom Komitee des Salons beauftragt ihn zu bitten, das Gemälde aus dem Katalog zurückzuziehen oder den wenigstens den sichtbaren Titel zu übermalen. In der linken unteren Ecke hat Duchamp in Druckbuchstaben den Titel "NU DESCENDANT UN ESCALIER" gemalt.
Hinweis: Die Frage, ob die Figur eine Frau, einen Mann oder doch etwas ganz anderes darstellen soll, bleibt unbeantwortet. Die Figur lässt keine Rückschlüsse auf ihr Alter, ihre Identität oder ihren Charakter zu.
Grammatisch ist das Geschlecht von "nu" jedoch männlich, was für viele Spekulationen gesorgt hat, ob Duchamp tatsächlich einen männlichen Akt dargestellt hat.
Nach der Aufforderung seiner Brüder und durch den Druck anderer Kubisten zog Duchamp seine Arbeit von der Ausstellung zurück. Er transportierte das Werk in einem Taxi zurück in sein Pariser Atelier, wo es allerdings nicht lange verweilte.
Statt im Pariser Salon wurde es in der Galerie Dalmau in Barcelona noch im selben Jahr ausgestellt. Die Ausstellung trug den Titel Exposició d'Art Cubista.
Im folgenden Jahr wurde das Gemälde auf der New Yorker Armory Show ausgestellt, die für die Ausstellung von avantgardistischen Künstlern Europas bekannt war. Die Armory Show wurde von Walter Pach organisiert, der noch in 1912 einige von Duchamps Bildern für die Ausstellung mitnahm.
Duchamps Aktgemälde wurde in den USA offenbar anders als in Europa aufgenommen. Der Künstler hatte sich in Übersee geradezu einen Namen gemacht, ohne persönlich anwesend zu sein. Alle seine Gemälde wurden im Rahmen der Ausstellung verkauft.
In Pierre Cabannes Veröffentlichung seiner Gespräche mit Duchamp in 1971 erklärte dieser, dass Pach Duchamp nach Amerika einlud, als er im Jahr 1914 in Paris war, was wiederum einen Wendepunkt in Duchamps Leben bedeutete.
Einflüsse aus dem Kubismus, Futurismus und der Fotografie
Es ist wichtig festzuhalten, dass der Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2, sozusagen ein Gemälde zwischen zwei Kunststilen war, nämlich dem Kubismus und dem italienischen Futurismus.
Letzterer begann um 1909 und erforschte die dynamische Bewegung in der Kunst, Aspekte wie Geschwindigkeit und Bewegung wurden von Künstlern aufgegriffen.Künstler wandten sich von den Konventionen der alten Malweise ab und feierten die Technologie und die neue moderne Welt.
Duchamp wurde auch vom Kubismus beeinflusst, der um 1907 entstand. Der Kubismus war bekannt für seine gebrochenen Bildebenen, in denen Linien und Formen verwendet wurden, um geometrisch strukturierte Räume zu schaffen.
Ein charakteristischer Unterschied zwischen Kubismus und Futurismus war die Darstellung von Bewegung. Die Kubisten stellten ihre Motive oft statisch dar. Der Eindruck von Bewegung entstand durch die Darstellung der Motive aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig. Im Futurismus hingegen wurde gezielt der Aspekt der Bewegung und der Dynamik des Motivs betont.
Merke: Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 scheint die Kluft zwischen Kubismus und Futurismus zu füllen, denn wir sehen die für den Kubismus charakteristische Zersplitterung der Form in Verbindung mit der Dynamik des sich bewegenden Motivs des Futurismus.
Ein weiterer Einfluss auf Duchamps künstlerischen Stil war die Fotografie, insbesondere die Arbeit von Eadweard J. Muybridge und Étienne-Jules Marey, die dafür bekannt waren, die subtilen aufeinanderfolgenden Bewegungen von Menschen und Tieren einzufangen.
Interessant ist, dass Muybridge zahlreiche Abzüge anfertigte, die seine Motive in Bewegung zeigten, darunter auch nackte Frauen. Darunter war auch eine Szene, in der eine Frau unbekleidet Stufen hinab geht. Es liegt nahe, dass Duchamp von diesem Werk unmittelbar bei der Erstellung seines Gemäldes beeinflusst wurde, da er bestens mit den Fotografien vertraut war.
Formale Analyse von Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2
Im Folgenden werden wir uns genauer ansehen, wie Marcel Duchamp den Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 gemalt hat. Anhand der oben erwähnten Einflüsse können wir die stilistischen Elemente besser verstehen, die bei der Darstellung des Themas eine Rolle spielen.
Sujet
Wenn wir uns das Gemälde ansehen, ist es durchaus vorstellbar, dass wir nicht direkt erkennen, was wir gerade sehen.
Der erste Eindruck dieser Komposition wird von Linien und verschiedenen Flächen dominiert, die einer Figur ähneln.
Von links nach rechts sehen wir, wie sich jene Figur auf die rechte Seite der Komposition zubewegt und immer größere Formen annimmt, je näher sie in den Vordergrund tritt. Eine Bewegung der Figur wird angedeutet.
In der linken unteren Ecke kann man die Formen einer Treppe erahnen.
Farbe
Das Farbschema in Duchamps Gemälde besteht hauptsächlich aus neutralen Farben. Vor allem Ocker-, Braun- und Schwarztöne sowie schwache Blautöne lassen sich erkennen.
Es ist fast so, als würde eine unbekannte Lichtquelle auf die Figur fallen: Je weiter sie nach vorne tritt, desto heller wird sie.
Pinselführung und Farbauftrag
Der Farbauftrag ist expressiv und energisch. Pinselstriche lassen sich erkennen (im Original, weniger auf Fotos) und dennoch sind die einzelnen Farbflächen fließend und weich gemalt.
Linie, Form und Gestalt
Linien sind ein wichtiger Bestandteil von Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2.
Die Bildkomposition wird durch die vertikalen Linien der Figur bestimmt. Der Kontrast zwischen Vorder- und Hintergrund wird nicht nur durch die Farbe betont, sondern er wird auch durch die kürzeren horizontalen Linien unten links und oben rechts verstärkt.
Eine Vielzahl von geschwungenen, kurzen, langen, dünnen und dicken Linien, tragen allesamt dazu bei, einen Rhythmus und ein Gefühl der Bewegung zu erzeugen, während die Figur die Treppe hinabsteigt. Dies wird durch die geschwungenen weißen Punkte in der Mitte des Hüftbereichs der Figur sowie durch die geschwungenen Linien etwa auf Höhe der Waden noch verstärkt. Möglicherweise soll damit eine Drehung oder die Bewegung des Akts gezeigt werden.
Außerdem sind verschiedene Formen zu sehen, von runden und quadratischen Formen bis hin zu dreidimensionalen zylindrischen und konvexen Formen, die den Oberkörper und die Beine der Figur andeuten. Die Unterschenkel und Füße der Figur hingegen erscheinen eher pyramidenförmig.
Raum
Die rückläufige Treppe verleiht der Komposition eine räumliche Tiefe, zusammen mit der Figur, die im Vordergrund größer wird.
Die Bildebene hingegen ist eine geometrische Experimentierfläche, auf der sich Formen wiederholen und ein Rhythmus entsteht, der Bewegung und Dynamik suggeriert.
Interpretation des Gemäldes im geschichtlichen und künstlerischen Kontext
Bei Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 können wir den Bildinhalt in Verbindung mit der Entstehungsgeschichte interpretieren. Auch wenn das Motiv nicht naturalistisch dargestellt wurde, so kann man doch eine klare Tendenz zur Figürlichkeit erkennen.
Die Andeutung von Bewegung und Geometrie einer Figur, die in verschiedenen zeitgleichen Perspektiven abgebildet wurde, lässt sich hervorragend mit den Einflüssen für Duchamp in Verbindung setzen. Kubismus, Futurismus und die damals moderne Fotografie scheinen alle ihren Beitrag in der Entstehung des Gemäldes geleistet zu haben.
Hervorzuheben ist, dass Aktgemälde bis dato nicht derart abstrahiert waren und daher im klassisch geprägten Europa auf viel Kritik stießen. In den USA, die damals insbesondere von avantgardistischen Motiven und Techniken beeindruckt waren, galt das Werk als wegweisend und grenzüberschreitend für die Möglichkeiten der Aktmalerei. Der uneindeutige Titel, der keine Klarheit über das Geschlecht der Figur zu bringen schien, trug ebenfalls dazu bei, die Grenzen des Erlaubten zu hinterfragen.
So betrachtet war Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 fundamental für die Entstehung seines Geniestreichs Fountain nur wenige Jahre später, mit dem er die geläufigen Definitionen der Kunst vollumfänglich konterkarierte .